Sonderausstellungen

Die 1920er - das Jahrzehnt der Mundharmonika

Die Chromonica wurde erst Mitte/Ende der 1920er so richtig populär. Hintergrund war eine allgemeine, vor allem die USA erfassende Mundharmonika-Begeisterung. Hohner nutzte dies aus und befeuerte mit intensivem Marketing die Sache. Höchst beliebt waren die Harmonica-Contests, also Wettspiele, die überall in den „Staaten“ abgehalten wurden. Die jugendlichen Teilnehmer spielten in der Regel „Marine Band“ oder andere diatonische Modelle. Doch die ambitionierten Spieler stiegen bald auf das neue Modell mit den größeren Spielmöglichkeiten um.

Besonders unter Jugendlichen wurde die Teilnahme an den populären, von Hohner oftmals selbst initiierten Mundharmonika-Wettbewerben bald zum Trend. Auch mit der seit 1922 propagierten Orchesteridee sollte das Harmonikaspiel kultiviert und – selbstredend – der Umsatz an Hohner-Mundharmonikas angekurbelt werden. Viele der jungen Harp-Fans gründeten eigene Spielgruppen und Ensembles.

Es ist nicht klar, ob und wann die besten Mitspieler des Hoxie-Orchesters zur Chromonica griffen. Die große Berliner Spielgruppe „Stern“, Flaggschiff der Orchesterbewegung in Deutschland, tat dies erst um 1950. Dennoch scheint die chromatische Mundharmonika mit Schieber um 1930 den Durchbruch geschafft zu haben.
Die größten Virtuosen spielten damals bereits Chromonica.

Die Orchesterbewegung in den USA
Die um 1925/1930 außerordentlich populäre Mundharmonika-Orchesterbewegung war ein Phänomen und wurde damals sogar wissenschaftlich untersucht. So gibt die zu Beginn der 1930er Jahre erschienene Publikation „National Survey of Harmonica Bands and Classes“ die Auswertung einer Befragung von 1.300 Leitern von Orchester- und Spielgruppen mit insgesamt etwa 45.000 Spielern wieder. Philadelphia war Keimzelle und Hauptort massenhafter Orchestergründungen. Dort begann 1921/22 Albert N. Hoxie seine Arbeit, die ihn zur Galionsfigur der Bewegung machte.
In einem Hohner-Werbeheft von 1931, „The Harmonica as an Important Factor in Modern Education“, wird die Entwicklung geschildert. Demnach erlernten allein in Philadelphia innerhalb von drei Jahren 40.000 Schüler das Mundharmonikaspiel. Die Besten formten das „Boy Council Harmonica Orchestra“, dessen musikalischer Leiter der oben genannte Hoxie war. Mit dieser beeindruckenden Harmonika-Band unternahm er im Frühjahr 1926 eine Tournee durch fünf Bundesstaaten. Kurz danach erhielt das Orchester die Ehre, als „Official Band of the Sesquicentennial“ bei der 150-Jahr-Feier der USA auftreten zu dürfen. Zum Sound der Band äußerte sich 1988 das ehemalige Mitglied Jim Prushankin: „Wir spielten meistens klassische und halbklassische Musik in vier Stimmen plus Bass-Harmonika-Begleitung. Die Auftritte waren alle professionell. Die Band klang wie ein Symphonie-Orchester.“

Einen weiteren Höhepunkt bildete im Sommer 1929 das Konzert der Philadelphia Harmonica Band vor Präsident Hoover (siehe Großfoto), der wie einige seiner Vorgänger bis hin zum legendären Abraham Lincoln ein Mundharmonikafreund war.

Zur Entstehung des Trios „Harmonicats“
Viele, die Mundharmonika-Profis werden wollten, strebten die Mitwirkung bei den berühmten Harmonica Rascals an – und viele hielten es nicht lange unter der Herrschaft von Borrah Minevitch aus. So erging es Jerry Murad (1919-1996), dem Kopf der berühmten „Harmonicats“, „The most popular harmonica group ever“ (Kim Field, „Harmonicas, Harps, And Heavy Breathers“). Murad kam in Istanbul zur Welt. Nach der Emigration seiner Eltern in die neue Welt wuchs er in Chicago auf. Seinen Weg zur Chromonica beschrieb er wie folgt:

„Meine Mutter kaufte mir eine Marine Band für einen viertel Dollar, als ich neun Jahre alt war. Bald danach konnte ich eine einfache Melodie spielen. Ich merkte schnell, dass die diatonische Mundharmonika nicht alle Töne hergab, die ich benötigte, deshalb brachte mich meine Mutter mit einer kleinen, chromatischen 10-Loch-Harmonika weiter.“ (zitiert nach Kim Field, S. 61f)

Murad bewunderte das Spiel der Harmonica Rascals, die er live in Chicago erlebte. Zunächst, 1937, bildete er zusammen mit seinem Schulfreund Pete Pedersen und dem Begleitharmonika-Spieler Al Fiore ein Trio, das sich aber auflöste, als sowohl Murad als auch Pedersen in Borrah Minevitchs Truppe aufgenommen wurden. Nach einigen Problemen mit Bandleader Minevitch verließ Murad die Rascals alsbald. Dem Vorschlag Al Fiores folgend bildeten die beiden zusammen mit dem hervorragenden Bassharmonika-Spieler Don Less ein Trio, das es kurzzeitig mit einer Sängerin versuchte, aber schließlich schon zu Beginn der 1940er Jahre als reines Mundharmonika-Ensemble „Harmonicats“ auftrat. Zur weiteren Geschichte und epochalen Wirkung dieses Trios siehe Ausstellungskapitel „Ensemblefieber der 50er“.

"Ensemblefieber" - der Mundharmonikaboom der 1950er

Beiderseits der Fronten massenhaft gespielt erlebte die Mundharmonika nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals eine Blütezeit und bescherte der Hohner AG beste Geschäfte.

Zu einem besonderen Phänomen entwickelte sich die Mundharmonika-Spielgruppe in kleiner Besetzung, zumeist als Trio oder Quartett. In den 1950er Jahren kam es zu einem regelrechten „Ensemblefieber“.
Wie in anderen Bereichen setzten hier die USA den Trend: In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte Jerry Murads Trio „Harmonicats“ eine ungeheure Vorbildwirkung. Ob die Hotchas in den Niederlanden, das Trio Raisner in Frankreich oder das Trio Herold in Deutschland, alle Spitzenensembles orientierten sich an den Harmonicats – nicht ohne ihren jeweils eigenen Stil auszufeilen und ihrerseits Trends zu setzen.

„Harmonicats“ – das erfolgreichste Trio aller Zeiten
Erst mit dem richtigen Management kam der Durchbruch der drei US-Harper. Bill Putnam produzierte 1947 mit den Harmonicats eine erste Platte. Der Titel „Peg O’ my Heart“ (eigentlich nur als B-Seite gedacht) wurde zum Riesenhit und verkaufte sich millionenfach. Die Harmonicats hatten fortan einen großen Namen, viele Auftritte und weitere Schallplattenerfolge wie etwa „Malaguena“ oder „Hora Staccato“. Die LP „Cherry Pink and Apple Blossom White“ schaffte es sogar in die Charts. In den USA war sie die Nummer 17 des Jahres 1960.
Die großen Zeiten neigten sich dann allerdings dem Ende entgegen. Wegen interner Differenzen verließ Don Less 1972 die Gruppe und bildete ein eigenes Ensemble. Al Fiore verabschiedete sich 1982 in den Ruhestand. Auch Jerry Murad zog sich danach offiziell zurück. Doch bis zu seinem Tod 1996 trat er immer wieder mit den neuen Ensemble-Mitgliedern Dick Gardener (Bass) und Bob Bauer (Begleitung) auf. So waren die Harmonicats bei einem Gala-Abend der Weltfestspiele 1989 in Trossingen zu bewundern und wurden entsprechend bejubelt.

Gerade im Nachkriegsdeutschland (West) herrschte eine große „Trio-Begeisterung“, die Hohner selbstredend durch entsprechende Werbung ausnutzte und forcierte. Wettspiele, Deutsche Meisterschaften und Weltmeisterschaften auch im Bereich Ensemble gehörten dazu.

Die Berliner Szene der 1950er Jahre

Hans-Joachim Schwarz, Mitglied des Berliner Trios „Chromonica Bebby’s“ berichtet über die damalige Szene:
„So richtig los ging es etwa 1955. Überall wurde Mundharmonika gespielt, auf den Straßen, in Parks, in S- und U-Bahnen. Wildfremde Menschen trafen sich dort und wetteiferten miteinander, wobei alle Bereiche der Musik berührt wurden. Viele Spieler besaßen erstaunliche solistische Fähigkeiten. Meistens wurde Chromonika II und III benutzt. Manchmal auch die ‚Hohner-Orchester’. Aus diesen „Straßenmusikanten“ bildeten sich dann auch die ersten Berliner Mundharmonika-Trios, so auch das unsere. Die Mundharmonika war seinerzeit DAS Instrument des „Kleinen Mannes“.
Die Ensembles, speziell das allgemein übliche Trio mit chromatischer Mundharmonika (Melodie), Begleit- und Bassharmonika, kreierten einen eigenen Musikstil, wobei nicht nur Bass- und Begleitharmonika geschickt in Szene gesetzt wurden, sondern ab und an eine Trillerpfeife oder eine Miniaturmundharmonika.
Eine gekonnte Show gehörte unbedingt dazu. Albert Raisner zum Beispiel nutzte die erheblichen Größenunterschiede seiner Triomitglieder effektvoll aus. Eindrucksvolle Bühnendarbietungen brachten auch die „Mouth Organ Swingers“ (später: „The Morgans“) aus Belgien.

„Grelle Show, rasantes Spiel“ (Christoph Wagner) – wie bei den US-amerikanischem Vorbildern aus den Vorkriegsjahren (etwa bei den „Harmonica Rascals“) galt dies nun für die europäischen Spielgruppen.

Noch schneller, als sie entstand, verschwand die große Mode in den frühen 1960ern wieder. Die meisten der unzähligen Trios lösten sich wieder auf. „Es gab kaum noch Aufträge“ schreibt der unmittelbar beteiligte Zeitzeuge Hans-Joachim Schwarz und konstatiert weiter:
„Die Mundharmonika spielte nur noch auf Betriebsfesten eine Rolle und wurde zunehmend in den privaten Bereich verdrängt. Zum Glück gab es Virtuosen wie Adler (…), die über Jahre international das Instrument am Leben erhielten, sowie die zunehmende Schar der Blues-Spieler.“

Die Chromonica in der E-Musik

Trotz großer Künstler wie Larry Adler, Tommy Reilly, John Sebastian oder heute Yasuo Watani: Im Konzertsaal blieb und bleibt die Mundharmonika eine Ausnahme – aber eine bemerkenswerte Ausnahme.

Jahrzehnte lang erfolgreich und über die Mundharmonikaszene hinaus bekannt war der in Kanada geborene Tommy Reilly (1919 – 2000). Ihm gelang eine „Chromonica-Karriere“ im Bereich der klassischen Musik. Zeitgenössische Komponisten wie Gordon Jacob und James Moody schufen Werke für den in England lebenden Virtuosen Reilly.
(In der Filmzusammenstellung zur Sonderausstellung ist Reilly in Klavierbegleitung von James Moody zu bewundern.)

Vor dem Krieg trat der junge Reilly gleich vielen anderen als Mundharmonikakünstler im Varieté auf. Im Krieg selbst entwickelte er sein klassisches Chromonicaspiel. Zeit dazu gab ihm die Internierung durch die Gestapo.

Nach 1945 wurde Tommy Reilly durch Rundfunkübertragungen vor allem in seiner Wahlheimat Großbritannien populär. Er schuf sich im Lauf der Zeit ein Repertoire von über 20 Konzerten und spielte Dutzende von Schallplatten ein. Oft trat er mit renommierten Klangkörpern wie dem „Royal Philharmonic Orchestra“ auf.

Seiner persönlichen Anregung gemäß entwickelte Hohner das Spitzenmodell „Silver Concerto“ wie ein Werbefaltblatt dokumentiert:
„1967 entschloss er sich, die erste Konzertmundharmonika der Welt aus Silber bauen zu lassen. Sie wurde von einem Londoner Silberschmied nach Reillys Angaben in Handarbeit gefertigt. Heute wird die Silver-Concert-Chromonica von der M. Hohner AG in Trossingen hergestellt.“

Auf Augenhöhe mit Larry Adler und Tommy Reilly und ebenfalls im Konzertsaal agierten nur wenige andere Solisten, etwa der 1920 geborene Brite Ronald Chesney. In den 1940er und 1950er Jahren machte er mit seiner Harmonikakunst Furore, danach wechselte er den Beruf und wurde Drehbuchautor.

Der Japaner Yasuo Watani, in den 1980er Jahren von Helmuth Herold in Trossingen ausgebildet, verkörpert heute die Möglichkeiten der Chromonica im klassischen Bereich. Ein anspruchsvolles E-Musik-Repertoire haben auch einige andere Virtuosen, etwa der Norweger Sigmund Groven oder auch der Österreicher Franz Chmel.

Technik und Aufbau der Chromonica-Instrumente

Grundlegender Unterschied zu anderen Mundharmonikas ist die Schiebertechnik. Das Prinzip der Freigabe von Halbtönen durch Betätigung eines Schiebers blieb über 100 Jahre unverändert.

Im Detail wurde im Laufe der Zeit aber vieles verbessert  und ergänzt, von der Nutzung anderer Materialien, von Design und Ergonomie bis hin zur Servicefreundlichkeit. So etwa gestattet die „CX-12“ einen besonders leichten Zugriff zum Innenteil.

In den Anfangsjahrzehnten bildeten die Entwicklung der größeren Modelle „Super-Chromonica“ und „Chromonica 64“ Marksteine durch den erheblich erweiteten Tonumfang von 48 beziehungsweise 64 Stimmen.

Zu den Neuheiten 2012 gehört die „Discovery“, ein Einsteigermodell auf Basis der Chromonica 270.

Flyer 100 Jahre Hohner Chromonica